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Perle

Wenn die ganze Welt im Dunkeln liegt

IRIS CAGLIONI

Mühlau Regional bekannt sind die Geschwister durch ihr kulturelles Wirken und ihre Liebe zur Ländlermusik. Oskar Betschart und Edith Sidler leben beide mit einer fast 100-prozentigen Blindheit und doch sehen sie mehr als viele ihrer Mitmenschen.

IRIS CAGLIONI

Am 15. Oktober fand der nationale Tag des weissen Stocks statt. Er ist das klassische Hilfsmittel von Menschen mit einer Beeinträchtigung der Augen. Oskar und Edith sind auch mit diesem weissen Stock unterwegs. Sie sind zwei von fünf Kindern und kamen schon mit prägnant eingeschränkter Sehkraft zur Welt. Ihre Eltern und Geschwister hingegen sehen alle aussergewöhnlich gut. «Die anderen haben Adleraugen, erwischt mit dieser Erbkrankheit hat es nur uns», meint Oskar lachend und doch schwingt auch ein bitterer Hauch in der Stimme mit. Rabenschwarz ist ihre Welt jedoch nicht. Oskar nimmt wahr, wenn die Umgebung beleuchtet ist oder wenn das Licht gelöscht wird. Edith ihrerseits hat noch einen Sehrest von zwei Prozent, sie kann nebst hell und dunkel noch ganz schwach Umrisse erkennen. Die Sehkraft von Oskar liess in der Pubertät stark nach, bei Edith erst später.

Oskar Betschart ist 40-jährig, Ehemann und Vater von zwei Söhnen
«Bilder von früher habe ich sehr stark verinnerlicht. Ich bin froh, in der Kindheit so viel gesehen zu haben, dass ich weiss, was grün oder rot ist. Farben und Formen kenne ich und ich denke, in Mühlau finde ich mich noch gut zurecht. Wie Mühlau aussieht, weiss ich noch gut, die Kirche, die Strassen. Also ich sehe natürlich nur das Mühlau von früher. Meine Geschwister sind immer noch kleine Kinder und meine Mutter sehe ich vor mir, wie sie vor rund 30 Jahren war – jung und schön.» Heute arbeitet er bei der Firma Lam-In Bau AG in Mühlau und kann etwas mit seinen Händen fertigen. Das wollte er schon immer.

Edith Sidler ist 37-jährig, Ehefrau und Mutter von zwei Söhnen
«Bis vor wenigen Jahren konnte ich meinen Bruder bei Auft itten auf die Bühne führen. Heute sehe ich zu wenig, um das noch zu tun. Ich bin Mutter von zwei Buben. Der kleinere ist richtig modeaffin Er sagt mir aufrichtig, wenn mir ein Kleidungsstück gut steht oder nicht und ob die Farbe zu mir passt.» Edith ist Vollzeithausfrau und kocht im Durchschnitt für sechs bis acht Personen. «Die Handgriffe sitzen, ich weiss, wo alles seinen Platz hat – das ist wichtig bei nicht sehenden Personen. Der Einkauf des täglichen Bedarfs an Frischprodukten wie Milchprodukte, Brot oder Salat erledige ich selbständig im Dorf.» Seit zehn Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Hagendorn, dort im Dorfl – den kennt man sie. Alle zwei Wochen bekommt sie Hilfe für den Grosseinkauf. Dafür und für eine Putzhilfe bekommt sie eine Entschädigung der IV.

Selbes Schicksal, ähnliche Lebenswege
Oskar und Edith haben einen Altersunterschied von drei Jahren. Beide besuchten die Sonderschule Sonnenberg in Baar, die damals eine reine Blindenschule war. Sie schlugen später einen ähnlichen berufli hen Weg ein und waren in der Personalrekrutierung zuhause. «Mein Plus in diesem Beruf war, dass ich die Menschen nicht nach ihren Äusserlichkeiten vorverurteilte – ich musste mich immer auf meine anderen Sinne verlassen», sagte Oskar und auch Edith bestätigte dieselbe Erfahrung. «Abtasten, wie es in Hollywood gezeigt wird, das machen wir nicht. Wir sehen aber sehr viel mit den Ohren und der Nase.»

Fröhliche Naturelle – aber nicht immer
Sieht man sie in der Öffentli hkeit, wirken sie trotz ihres Schicksals fröhlich. Im Innern ist es nicht immer so. Was Edith am meisten zu schaffen macht, ist der Umstand, dass sie ein Leben lang auf die Hilfe anderer angewiesen sein wird. Die Digitalisierung und die rasante Entwicklung der Technik ist für sie Fluch und Segen zugleich. Obwohl am iPhone die Apps sprechen können, ist alles, was mit Touch-Screen bedient wird, schwierig bis unmöglich für sie. Heute gibt es Homepages, die angepasst sind mit einer Sprachausgabe, die sind aber wenig verbreitet. In der Schule lernten sie die Brailleschrift, die auch an der Computertastatur zur Verfügung steht. So ausgestattet sind beispielsweise die Tasten in Aufzügen. Edith erzählt: «Im Grund tasten wir uns durchs Leben. Vom ersten Moment an, wenn ich am Morgen aufstehe, muss ich alles ertasten – jeder Handgriff, jeder Schritt braucht meine volle Konzentration. Wir haben viele Freunde, die sehend sind. Und weil wir so dazugehören, geht auch mal vergessen, dass wir nicht einfach aufstehen und mitlaufen können – wir brauchen für alles mehr Zeit. Das ist einerseits eine Komplikation und andererseits ein Kompliment für uns.»

Ihre Musik ist regional bekannt Seit ihrer Kindheit sind die beiden Geschwister passionierte Schwyzerörgeli- Spieler und damit sind sie regional bekannt. Zusammen gründeten sie das Schwyzerörgeliduo Betschart. Heute heissen sie offiziel Schwyzerörgelitrio Betschart, denn schon seit längerem ist ihre Mutter Luzia, ebenfalls in Mühlau wohnhaft, mit von der Partie. «Wir sind glücklich, dass unsere Mutter mit uns musiziert.» Studieren sie ein neues Stück ein, dann hören sie es ab einem Tonträger. Danach wird einfach geübt, bis die Finger die richtigen Knöpfe finden. «Das ist kein Problem für mich, denn ich übe nur neue Stücke ein, die mir auch gefallen, dann geht das gut», lacht Oskar.

Der Umgang mit blinden Menschen
Beide bewegen sich in der Öffentli hkeit mit dem weissen Stock. In der bekannten und gewohnten Umgebung geht das auch sehr gut. Sie danken den hilfsbereiten Mitmenschen, die sie auf der Strasse antreffen. Berührungsängste sind keine da. «Mich am Arm berühren und mich fragen, ob ich Hilfe beim Überqueren der Strasse brauche, das darf jeder tun. Nicht so toll ist es, wenn mich jemand mit Schwung packt und mitreist», sagte Oskar. Was für den sehenden Menschen selbstverständlich ist, kann für die Geschwister ein Hürdenlauf werden. «Wir spüren die Blicke auf uns, wenn wir angestarrt werden – zum Beispiel im Restaurant, weil wir vielleicht nicht so schön essen.» Beide sind ihren Eltern dankbar dafür, dass sie in der «normalen Welt» aufwachsen und lernen durften. Edith ist aber heute auch um einen Meinungsaustausch mit anderen nicht sehenden Menschen bemüht.

Als Schwyzerörgelitrio Betschart sind sie in der ganzen Region bekannt. Trotz ihres Schicksals sind sie fröhlich unterwegs.
Oskar Betschart und seine Schwester Edith Sidler am Schwyzerörgeli. Ihre Mutter Luzia Betschart spielt den Bass.

Foto: zVg

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