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Perle

Das Freilichttheater «Amerika»

Autorin: Annemarie Keusch

Ganz tiefe Einblicke

Das Freilichttheater «Amerika» taucht ein in Geschichten und in die Geschichte.

So oder ähnlich wars. Damals 1854, als die Zeiten auch im Freiamt schlecht waren. Viele gingen oder mussten gehen. «Amerika» nimmt ihre Geschichte auf, mit viel Respekt, aber hie und da auch mit einem Augenzwinkern. Es ist ein berührender Abend, den das Premierenpublikum erlebte. 17 weitere solcher werden folgen.

Der kleine Franz zeichnet mit dem Stein einen Kreis auf den Boden. «Hier in der Mitte ist Muri. Chli ue, chli öbere, dann sind wir am Meer. Und dann kommt Amerika.» Richtung Wohlen und Aarau. «Dann ist man schon fast dort.» Es ist eine der Szenen, die bleiben. Wo ist Amerika? Die Kinder beantworten diese Frage mit viel Leichtigkeit. Überhaupt sind ihre Auftritte erfrischend, bereichernd. Wann sie wieder nach Hause kommen? «Der Vater meinte am Sankt-Nimmerleins-Tag. Wann das ist? Ich glaube an Weihnachten.» Sie wirbeln quer durch die Bühne, hetzen hintereinander her, rennen vor dem «Gülle-Toni» davon. Und sie halten einander und ihre Mutter an den Händen, tragen später zu zweit einen Koffer. Dann, wenn ihre Reise nach Amerika losgeht. Die Kinder, sie bringen noch mehr Emotionen in «Amerika ».

Emotionen, von denen es in der Freiämter Auswanderergeschichte ohnehin schon ganz viele hat. Es sind vor allem die Schicksale, die diese auslösen. Jenes von Katharina Etterlin zum Beispiel, die drei uneheliche Kinder hat und das vierte unter dem Herzen trägt. Vom Sittengericht, bestehend aus den Gemeindeammännern von Geltwil, Buttwil, Muri und Wallenschwil, muss sie sich als Luder bezeichnen lassen, als eine, die jeden Mann verführt. Einer der Richter klemmt die Einvernahme plötzlich ab, als es darum geht, wer denn diesmal der Kindsvater sei. «Feigling», beschimpft ihn Katharina später. Das Urteil: Sie muss auswandern, samt ihren drei kleinen Knöpfen.

Viele Fragen an den Rückkehrer

Oder die Geschichte von Josef Stöckli, der vor zehn Jahren im weiten Amerika sein Glück suchte. Dass er, der Mittellose, die Tochter des Gemeindeammanns heiraten könne, war sowieso unmöglich. Stattdessen ging er, half dem Unteragenten der Auswandereragentur, mit falschen Geschichten aus dem gelobten Land die Leute aus dem Dorf zum Auswandern zu bewegen. Doch die Sehnsucht quälte ihn. Darum kehrte er als Joe zurück, als vermeintlich gemachter Mann. Ihn löchern die Leute mit Fragen. Welches Handwerk ist am erfolgversprechendsten? Glauben sie dort auch an Gott? Am Ende an denselben? Darf der Hund auch mitkommen?
Und es sind die Geschichten jener, die am Ende gehen, weil das Schicksal ihnen zu oft übel mitgespielt hat, weil der Druck im Dorf zu gross ist. «Manchmal frage ich mich schon, was der liebe Gott den lieben langen Tag macht», meint Vit Villiger und unterschreibt den Vertrag. «Schlimmer als hier kann es dort drüben nicht sein.»

Schnaps ausschenken, Verträge aufsetzen

Emotionen löst vor allem auch Lonzi Müller aus. Der Unteragent. Derjenige, der an jeder einzelnen Auswanderung verdient. Derjenige, der hofft, dass möglichst viele gehen und möglichst niemand retourkommt, um zu erzählen, dass das gelobte Land vielleicht doch nicht so gelobt ist. Er lockt mit Sätzen wie: «Je früher du dort bist, desto schneller wirst du reich.» Oder er hilft ein wenig nach, dass die Aspiranten in seiner Beiz vielleicht den einen oder anderen Schnaps zu viel trinken, was ihre Bedenken verschwinden lässt. «Die Welt wird nicht besser, wenn es mir schlechter geht.» Lonzi wendet sich direkt ans Publikum: «Luegid doch ned so blöd.» Wenn er es nicht tue, tue es ein anderer.
 «Amerika» gewährt Einblick in das Leben einer ganzen Dorfgemeinschaft. Liebe, Missgunst, Freundschaft, Selbstmitleid – alle möglichen Gefühlsregungen werden abgeholt. Die Waschweiber tratschen, um nachher nonnenhaft hintereinander her zu traben und den Rosenkranz zu beten. Die Schneiderin versucht, bei allen in gutem Licht dazustehen. «Als Fremde kann ich mir überhaupt nichts erlauben », sagt sie, die aus Zug kommt. Der «Muser» beobachtet viel, realisiert wenig und ist der Einzige, der freiwillig nach Amerika will, aber nicht gehen darf. Er will wissen, wer Sodom und Gomorrha sind. Die Antwort: Auswärtige.

Mit Hochzeitskleidern in der Zwischenwelt

«Amerika» sind ganz viele Geschichten, die zu einer werden und damit einen beklemmenden, berührenden Einblick in die Geschichte des Freiamts ermöglichen. Die Kostüme, das Licht, das manchmal Lonzis Schatten über die gesamte Bühne verteilt, die Kulisse, die Livemusik. Die Frauen in Hochzeitskleidern, die die Zwischenwelt symbolisieren, die mal tanzen, sich mal roboterartig bewegen, mal schleichen und immer zeigen, dass da eben noch mehr ist. Und es sind die grossen Choreografien. Dann, wenn das ganze Ensemble auf die Bühne kommt, mit glitzernden Pompons in der Hand. «Wotsch mol gnueg z ässe ha, deför kei Cholera? Wotsch es guets Läbe ha? Chom of Amerika.»
 «Amerika» ist Unterhaltung, «Amerika » ist aber auch Tiefgang. «Amerika » ist Historie, aber «Amerika» ist auch Fiktion. Und «Amerika» gibt Einblick in das wunderbare und vielseitige Repertoire an Freiämter Fluchwörtern: Plagööri, Halongg, Broisivogel. Tickets: amerika.theater

Bilder: Gregor Galiker

Medienpartner